Der neue Film von Studio Ghibli ist wieder ein Meisterwerk geworden. Das findet zumindest MeinMMO-Autor Christoph Waldboth. Wie er zu seiner spoilerfreien Meinung kommt, erklärt er in seiner Review.
„Der Junge und der Reiher“. Das ist der neue Film von Hayao Miyazaki. Selbst jene, die den Namen des legendären Regisseurs nicht kennen, dürften zumindest einige seiner Filme gesehen haben. Darunter befinden sich nämlich Animationsperlen wie „Chihiros Reise ins Zauberland“, „Prinzessin Mononoke“ oder „Mein Nachbar Totoro“.
Eigentlich wollte Miyazaki längst schon in Rente gehen (die Süddeutsche Zeitung berichtete). „Wie der Wind sich hebt“ von 2013 sollte sein letzter Film sein. Doch offensichtlich lässt dem Anime-Meister seine eigene Kreativität keine Ruhe.
Der neue Film heißt also „Der Junge und der Reiher“. Im japanischen Original trägt er den Titel „Kimitachi wa Dō Ikiru ka“, das heißt übersetzt: „Wie lebt ihr?“. Damit leiht sich Miyazakis Film den Titel beim gleichnamigen Roman des japanischen Schriftstellers Genzaburo Yoshino. Die eigentliche Geschichte des Films stammt aber vom Regisseur selbst. Wie schon so oft steht ein Kind im Mittelpunkt der Erzählung. Ohne zu viel zu verraten: Es geht um Trauer, und wie man damit umgeht.
Hier seht ihr den Trailer zum Film:
Die Rückkehr zum Fantastischen
„Wie der Wind sich hebt“ erzählte noch die Geschichte eines japanischen Ingenieurs aus den 1920er Jahren, und war dementsprechend realistisch gehalten. In „Der Junge und der Reiher“ nehmen die Fantasy-Elemente wieder mehr Raum ein. Gar so viel, dass ich mich ein ums andere Mal an vergangene Filme von Studio Ghibli erinnert fühlte. Stichwort Parallelwelten.
Dass das Magische wieder mit von der Partie ist, verrieten schon die Trailer. Trotzdem war ich im Kino überwältigt vom Einfallsreichtum und den vielen kreativen Ideen, die der Film bereithält. Kunterbunt wie eh und je verzaubert er mit tollen Hintergründen und absurden Kreaturen-Designs (leicht verstörend: Der Reiher).
Der Film ist im besten Sinne eine Wundertüte. Erst einmal geöffnet und hineingeblickt, kann man den eigenen Kopf gar nicht mehr herausziehen. Man möchte alles sehen und erleben. Hinzu kommt, dass das alles wieder hervorragend aussieht.
Animationskunst auf höchstem Niveau
Ja, die Bilder. Ja, diese Animationen. Ghibli beweist einmal mehr, dass das Studio zum Besten gehört, was die Welt der Animationsfilme bereithält. Mit viel Liebe zum Detail sind Figuren und Szenerien animiert. Selbst kleinen, scheinbar unbedeutenden Dingen wie dem unbeholfenen Hineinschlüpfen in einen Schuh wird Platz eingeräumt.
Es sind diese Details, die Miyazakis Filme für mich meisterhaft machen. Denn diese Details geben seinen Figuren etwas Menschliches, sodass ich beinahe vergesse, dass es gezeichnete Charaktere sind.
Handgezeichnet, muss betont werden. Noch immer werden die allermeisten Szenen im Hause Ghibli von Hand gezeichnet. Und das sieht man. Es mag Geschmackssache sein, doch in meinen Augen wird die moderne 3D-Animation der traditionellen, handgezeichneten niemals das Wasser reichen können. Jedes einzelne Bild in diesem Film könnte man sich ausdrucken und an die Wand hängen. Es sind nicht einfach nur Einzelbilder eines Anime, sondern unzählige Gemälde, die es wert sind, auf einer möglichst großen Leinwand betrachtet zu werden.
Deswegen sei euch allen ans Herz gelegt: Geht für diesen Film unbedingt ins Kino. Es lohnt sich.
Außerdem kommt ihr so auch in den Genuss von optimaler Tonqualität. Die Geräusche, die die fantastische Welt des Films zum Leben erwecken, klingen wunderbar knackig, und die Musik von Ghibli-Stammkomponist Joe Hisaishi untermalt das Geschehen auf der Leinwand auf minimalistische, doch stimmungsvolle Weise.
Wollt ihr eure Freude für Anime begeistern? Wir haben 5 Serien vorgestellt, die beim Einstieg helfen können.
Der Film könnte trotzdem nicht jedem gefallen
Eines muss ich aber unbedingt loswerden. „Der Junge und der Reiher“ ist meiner Meinung nach der mit Abstand schwierigste, weil komplizierteste Film von Hayao Miyazaki. Das liegt vor allem an der Art, wie der Filmemacher seine Geschichte erzählt.
Vieles wird bloß angedeutet oder in abstrakte Bilder gekleidet. Der Verlauf der Handlung kann verwirren, und wird Teile des Publikums irritiert zurücklassen. Auch ich saß am Ende der Vorstellung mit einem Stirnrunzeln da. Da ich aber so etwas liebe, habe ich mich auf dem Weg nachhause in eigene, wilde Theorien gestürzt. Wie das gemeint sein könnte, wie dies verstanden werden darf …
So bietet der Film genügend Spielraum für eigene Interpretation. Wie The Hollywood Reporter berichtete, ließ Miyazaki bei einem Preview-Screening im Februar 2023 folgende Nachricht verlesen:
Vielleicht haben Sie es nicht verstanden. Ich selbst verstehe es nicht.
via The Hollywood Reporter
Das zeigt, dass selbst der kreative Kopf hinter dem Film zu keiner eindeutigen Lösung findet.
Wie gesagt: Mir gefällt so etwas gut. Aber ich kenne auch viele, die einen Film einfach nur genießen wollen. Die sich für zwei Stunden in eine andere Welt verabschieden und sich berieseln lassen wollen. Die keine Lust haben, sich Teile der Handlung am Ende zusammenreimen zu müssen. Für all jene könnte der Film also eine kleine Enttäuschung sein.
Natürlich kann man all das ignorieren und sich einfach am audiovisuellen Meisterwerk erfreuen, das der Film für mich ist. Aber nachdem ich das Rätsel dahinter für mich zufriedenstellend entschlüsselt hatte, war ich noch mehr davon begeistert. Ihr solltet es auch versuchen.
Für mich gehört der Film zum Besten von Studio Ghibli
Wenn es um mein persönliches Ghibli-Ranking geht, spielt „Der Junge und der Reiher“ schon jetzt in der ersten Liga mit. Das heißt in meinem Fall: Er ist „Chihiro“, „Prinzessin Mononoke“ und „Wie der Wind sich hebt“ ebenbürtig. Der Grund dafür ist einfach: Der Film vereint das Beste aus diesen drei anderen Anime.
Er hat den Ernst und die Tragik von „Prinzessin Mononoke“, den Einfallsreichtum und den absurden Humor von „Chihiro“, und die meisterhaften, zwischenmenschlichen Beziehungen von „Wie der Wind sich hebt“.
Einmal mehr beweist Hayao Miyazaki, dass er zu den Besten seines Fachs gehört. Allen, die sich auch nur im Entferntesten für Anime und Animationsfilme im Allgemeinen begeistern können, sei dieser Film ans Herz gelegt. Glaubt mir, ihr werdet Dinge sehen, die ihr so noch nie zuvor im Kino erlebt habt. Ihr werdet mit kindlichem Blick staunen, euch freuen, Angst haben, Erleichterung verspüren. Ihr werdet ins Grübeln kommen, und die Geschichte und die Figuren mit euch nach Hause tragen. Und so schnell nicht wieder vergessen.
Bis zum nächsten Film von Miyazaki. Laut dem Vize-Präsidenten von Studio Ghibli (via cba.ca) arbeitet der Meister trotz seines hohen Alters (82!) ja schon am nächsten Streich. Ich freue mich schon jetzt darauf.
“Der Junge und der Reiher” ist ab dem 04. Januar 2024 in den deutschen Kinos zu sehen.
Bitte lies unsere Kommentar-Regeln, bevor Du einen Kommentar verfasst.